Zu den Fotografien von Barbara Sophie Nägle
von Thomas Schlereth
von Thomas Schlereth
Ramponiert stehen die Dinge vor Augen. Die Umstände haben sich nicht schadlos an ihnen gehalten und sichtlich ist Vieles zusammengekommen, was dazu beitrug: Der Zahn der Zeit, Wunden aus Tagen und Nächten, nicht mehr gezählte Reibungen und Zusammenstöße. Die Fotografien zeigen, ohne zu verklären. Es ist so gekommen über die Dinge wie Staub – woher und warum auch immer –, aber kein Urteilsspruch für diesen Moment. Stattdessen ist zu sehen, wie sich Licht noch im Schmutz behaupten kann und aus dem naheliegenden Schwarzweiß Farben entstehen. Als würden sie maßgeblich von diesem Licht und diesen Farben getragen, nehmen die Dinge auf, was ihnen widerfährt. Im Geiste stehen die Bilder ihnen bei.
Als Ganzes besehen, widmen sich die Fotografien nicht nur einzelnen Gegenständen, sondern zugleich einer jeweiligen Situation. Pflanzen ragen durch die Streben eines metallenen Tores, das zu einer Wand führt; Abfälle, vielleicht Teile der Behausung von Obdachlosen, schichten sich zwischen einen rostigen Gitterzaun und massigen Beton, direkt daneben Gehsteig und Straße; in Form zweier Ecken begegnen sich eine stark angeschnittene Backsteinwand und verputzte Oberflächen, deren Ausbesserungen ihrerseits gealtert sind und erneut Risse zeigen, darunter das kristallin erstarrte Gezeter von Kunststoffplanen – die Dinge sind eingebunden in ein Umfeld und die Fotografien zeigen diese Verbundenheit. Auch in jenen Bildern, die ihren Ausschnitt enger wählen, bleibt die Relation der gezeigten Objekte zu ihrer Umgebung thematisch.
Dass die Dinge in ihren Beziehungen sichtbar werden, korreliert mit einem Abstand relativer Nähe. Aus ihm heraus entstehen die Aufnahmen. Dabei geht der bildfassende Blick auf seine Motive zu, macht jedoch halt, bevor Einzelheiten zu sehr in den Vordergrund treten und sich kompositorisch zu stark isolieren. Straßen und Häuser, Wände und Plätze rücken an den Rand und treten hinter etwas, das an oder auf ihnen zur Erscheinung kommt. Und doch bleibt vom Umfeld genug zu sehen, um die zentrale Szene jedes Bildes in eine geräumigere Atmosphäre einzubinden. Auf diese Weise vermitteln die Fotografien zwischen zwei entgegengesetzten Richtungen: dem Überblick eines größeren Kontextes und der Nahsicht eines einzelnen Details. Die Umgebung fließt ein und unterhält Verbindungen über die Ränder des Bildes nach außen; zugleich treten ausgewählte Gegenstände als Protagonisten auf und lassen das Innere des Bildes fokussieren. So sieht jede Fotografie die Dinge nicht nur aus ihrer Welt heraus, sondern auch in sie hinein.
Offenkundig bleibt bei alldem, dass die zehrenden Kräfte überwiegen. Weder Schonen noch Aufbäumen wird dem Lauf der Dinge beikommen. „Der Sommer ist vorbei, | als wäre er nie gewesen, | eine Sonnenstelle ist noch warm, | aber das ist zu wenig.“ heißt es in Tarkowskijs Stalker*. Mit stilllebenhafter Beharrlichkeit zeigen die Fotografien Momente an, in denen die Dunkelheit an die Tür klopft. Sie wird nicht warten, hereingebeten zu werden. So werden in einem Memento mori die Dinge zum Anlass, sich die eigene Vergänglichkeit zu vergegenwärtigen: Der Tod tanzt nicht nur mit den Anderen. Doch zieht sich die Bildwelt dieser Bedenken meist in den Schutz von Innenräumen zurück. Anders in diesen Fällen. Nahezu alle Bilder finden ihre Motive im Außenraum, unter freiem Himmel, ungeschützt in rauem Klima. Die Spuren, die mit dem Dasein auf dieser Welt einhergehen, sind wahrscheinlich jedem auf seine Weise vertraut. Auch wenn die sensiblen Stellen nach außen meist aus Sorge und Angst verdeckt oder verdrängt sind, nach innen weiß wohl alles um die eigene Verletzlichkeit. In den Fotografien gewinnen die empfindlichen Punkte an Sichtbarkeit zurück. Ein letzter Aspekt, der Mensch. In so gut wie jedem Bild ist er unsichtbar anwesend. Viele der Dinge haben mit ihm zu tun, insofern sie sich seiner Herstellung verdanken, von ihm zusammengetragen und in Gebrauch genommen wurden. Was aus den Dingen geworden ist und weiter wird, ist sichtlich mit seinem Tun und Lassen verknüpft. Im Zeichen der Dinge sieht sich der Mensch hineingewoben in die Kräfte der Natur, ungefragt ins Leben gestellt und offen vor der Frage, wer hier zu wessen Sorge berufen ist. Jede Aktion begleitet ein Schatten. Der Wind kommt von alleine. Macht er die Dinge ungeschehen oder nimmt er sie mit? Ich bin nicht minder davon betroffen. Was ich gerade sehe, sind Bilder, die ihren Dingen beistehen. Ein jedes teilt einen spezifischen Augenblick mit, der einmal und ohne Gleiches war, an einem Ort, den es so gegeben hat, getragen von den Farben ungezählter Jahre und erhellt vom Licht eines Moments – nun in der Offenheit der Augen.
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* Andrej Tarkowskij: Stalker (UdSSR, 1980), zit. n. Norbert P. Franz (Hrsg.): Stalker, Potsdam 2009, S. 95f